Wer ist die Autorin?
Fatma Aydemir ist 1986 in Karlsruhe geboren und in den Neunzigerjahren in Deutschland aufgewachsen. Schon der Großvater ist im Zuge des Anwerbeabkommens zwischen der BRD und der Türkei in den Siebzigerjahren eingewandert.
Sie lebt als Kolumnistin und Redakteurin der taz in Berlin. Zuletzt erschien von ihr die Anthologie „Eure Heimat ist unser Albtraum“ zusammen mit Hengameh Yaghoobifarah.
2017 erschien ihr Debütroman „Ellbogen“.
Worum geht es?
„Dschinns“ ist ein deutsch-türkischer Gesellschafts- und Familienroman. Er erzählt die Geschichte der Eltern und der vier, größtenteils schon erwachsenen Kinder. Der Vater, Hüseyin, hat in Deutschland ein Leben lang hart gearbeitet und sich endlich einen Traum erfüllt: eine Eigentumswohnung in Istanbul. Hier möchte er leben, sobald er in Rente ist. Doch kaum hat er die Wohnung eingerichtet, stirbt er dort viel zu früh an einem Herzinfarkt. Die Familie findet sich zur Beerdigung des Vaters ein und sitzt nun in diesem Istanbuler Wohnzimmer eng beieinander. Von hier aus entfaltet die Autorin kammerspielartig das Leben der sechs Personen, denen sie jeder ein eigenes Kapitel widmet (wobei Hüseyins Geschichte größtenteils durch die Augen der anderen miterzählt wird).
Der Vater, der in Deutschland nie heimisch geworden ist, hoffte auf ein gutes Leben in Istanbul. Auch seine Frau Emine ist nicht glücklich geworden. Ihr Schicksal wird im Schlusskapitel enthüllt, auf das die Dramaturgie des Romans zielt. Die älteste Tochter Sevda hat es trotz mangelnder Schulbildung zur Restaurantbesitzerin geschafft. Peri, die jüngere Schwester, studiert Germanistik und hat sich schnell von der Familie unabhängig gemacht. Hakan, der älteste Sohn fühlt sich vom kleinkriminellen Milieu angezogen. Ümit, der Jüngste, lebt noch zuhause in Rheinstadt, geht noch zur Schule und setzt sich mit seiner möglichen Homosexualität auseinander. Verbunden sind sie alle durch ein großes Geheimnis, das die Eltern nie enthüllt haben. Dieses Schweigen trennt und verbindet die Familie gleichermaßen, es wird erst im Schlusskapitel endgültig gelüftet: Das Kurdischsein, von dem niemand etwas wissen sollte, und die Existenz eines älteren Geschwisterkindes, das bei Hüseyins älterem Bruder und dessen Frau aufgewachsen ist, da diese in ihrer Ehe kinderlos geblieben waren. Und über allen und allem walten die Dschinns, die guten und bösen Geister.
Warum haben wir uns für dieses Buch entschieden? (Regionalgruppe Bielefeld)
Der Roman beeindruckt und überzeugt mit seiner Vielstimmigkeit. Fatma Aydemir erzählt sehr anschaulich aus sechs verschiedenen Blickwinkeln heraus. Mit präzisen Beobachtungen, einem großen Einfühlungsvermögen und einer erstaunlich wandelbaren Erzählstimme gestaltet sie glaubhafte und stimmige Figuren. Jeder Figur verleiht sie eine eigene Sprache, einen eigenen Sprechduktus und eine ganz individuelle Art zu denken. So gestaltet sie sechs Menschen, die versuchen, in dem oft als fremd und kalt empfundenen Land dennoch ein selbstbestimmtes Leben aufzubauen. Realität und Fiktion werden von Fatma Aydemir eng zusammengeführt und in diesem Gesellschaftsroman überzeugend verbunden und letztlich verdichtet. Die Autorin zeigt uns mal zornig, mal äußerst nüchtern und höchst eindringlich, was es für Menschen bedeutet, in dem Land, in dem sie geboren wurden, als nicht dazugehörig behandelt zu werden. Was es für sie und ihre gesellschaftliche Stellung, die Fremdheit im eigenen Land, aber auch für das eigene Familiengefüge bedeutet. Welche Sprachlosigkeit herrschen kann, an welcher Stelle man vielleicht aber auch auf Verbündete trifft. „Selten wurden in der neueren Literatur die Qualen einer über Generationen vererbten Entmündigung und der Befreiung aus ihr so überzeugend geschildert.“ (FAZ)
Warum haben wir uns für dieses Buch entschieden? (Regionalgruppe Göttingen/Kassel)
Fatma Aydemirs Roman macht einen wichtigen Teil deutscher Geschichte aus weiblicher Perspektive sichtbar und gibt einen tiefen Einblick in die äußeren, vor allem aber auch inneren Kämpfe der Menschen in der ersten und zweiten „Gastarbeiter:innen“-Generation. Die Familiendynamik wird differenziert beschrieben, in den Geschichten der vielseitigen Charaktere spiegeln sich die verschiedensten gesellschaftlichen Themen (Abkehr von den Traditionen des Herkunftslandes, sexuelle Identität, Generationskonflikte, Gewalt) wider. Durch den empathischen Raum, den die Autorin ihren Figuren gibt, entsteht eine große Nähe. Der eindringliche, dichte Sprachstil geht unter die Haut.
Deutlich machen, wie weibliche Entwicklung immer auch mit der Familiengeschichte zusammenhängt, und Wege weisen, wie die Überwindung der Sprachlosigkeit im weiblichen Kontext gelingt – Dschinns kann beides. Für uns ist es Familienroman und Befreiungsbuch zugleich.