Odile Kennel: LUST

Cover von Kennel: Lust

Foto: Johanna Schwering

Autorin/Übersetzerin: Odile Kennel

Titel: LUST

Verlag/Erscheinungstermin: Verlagshaus Berlin 2021

Einreichung der Regionalgruppe: Berlin

Wer ist die Autorin?

Odile Kennel (*1967) ist Lyrikerin, Romanautorin, Übersetzerin in Berlin. Zweisprachig aufgewachsen, schreibt sie auf Deutsch und Französisch; übersetzt auch aus dem Portugiesischen und Spanischen, gelegentlich aus dem Englischen, und bewegt sich im Leben wie im Schreiben zwischen den Sprachen (und Kategorien) und über sie hinaus. Mit dem Roman Mit Blick auf See (dtv 2017) war sie für den Alfred-Döblin-Preis nominiert, 2021 war sie Finalistin beim Lyrikpreis Meran. 2022 hat sie den Paul Scheerbart-Preis für Übersetzung der Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Stiftung erhalten. Die von ihr übersetzte Lyrik, vor allem aus Lateinamerika, häufig von Autorinnen, handelt von Weiblichkeit, Queerness, von Revolte und Begehren (z.B. Angélica Freitas, Der Uterus ist groß wie eine Faust, Elif Verlag 2020, oder Margarida Vale de Gato, Die nicht reklamierten Reste, hochroth 2021).

 

Worum geht es?

In ihrem Essay Lust lotet Odile Kennel sinnlich-spielerisch, klug, humorvoll und radikal mutig ihr eigenes Begehren aus, jenseits herkömmlicher (auch sprachlicher) Kategorien weiblicher Lust. Die Lust am Körper ist hier Lust am Wort; die gelebte Lust am Text überträgt sich auf die Leserin, die ebenso lustvoll dem experimentellen, zwischen mehreren Sprachen springenden, klingenden Suchen nach den richtigen Wörtern für die weibliche Lust folgt. Das klingt etwa so: „schreiben ist ein körperlicher Akt, denken ist ein körperlicher Akt, sprechen ist ein körperlicher Akt, Wörter sind Material, das sich formen lässt … der Text entsteht im Kopf, geht durch den Mund, ich lasse ihn auf der Zunge zergehen, er languiert lange auf meiner langue, ist gespalten in mehrere langues, und schippert über die Lippen, mit denen ich dich gerade geküsst habe.“ (S. 14) Oder: „Jetzt noch mehr Wörter! Jetzt noch mehr Körperwörter! Möse Menstruation Uterus Vulvalippen Vagina Klitoris Mösensäfte Menopause Ejakulation Squirten Vulvahaare in einem Gedicht zu verwenden, ist immer noch Provokation, liegt alles im Schamvorsilbenbereich. Will ich provozieren? Ich will das Namenlose beim Namen nennen, will umbenennen oder das, was nicht genannt wird, aussprechen“ (S. 37), „als Frau meinen Körper benennen (der jahrhundertelang von Wissenschaftlern als etwas Defizitäres, nur als Abklatsch zum Mann Existierendes definiert und benannt wurde), als Frau den Körper des anderen benennen (mich ermächtigen), meine Lust benennen …, benennen, was ich da tue mit mir oder dem anderen Körper (das hätte ich als Mädchen, als junge Frau gerne gelesen)“ (S. 38).

Der Essay ist sehr persönlich, bezieht sich jedoch in kurzen Verweisen auch auf wichtige Referenzautor*innen (z.B. Lacan, Derrida, Cixous etc.). Die Leserin wird zur Komplizin, denn hier wird nichts ausdekliniert oder gar erklärt, sondern charmant und pointiert angedeutet – selbst überflüssige Verben werden gestrichen. Frau denkt mit und tut es lustvoll.

 

Warum haben wir uns für dieses Buch entschieden?

Eine Sprache für Begehren auch jenseits der üblichen Zuschreibungen von weiblich und männlich zu finden, ist Aufgabe der Literatur. Die Arbeit an der Sprache, eine Erweiterung dessen, was wir sagen und denken können, gelingt in diesem kleinen, feinen Buch. Und es behauptet nicht nur eine spielerische Überschreitung von Zuschreibungen und Grenzen, sondern setzt genau das auch sprachlich um. Das fanden wir toll. Die Kombination aus klugen, intellektuellen Beobachtungen und dem sprühenden Witz, der Sinnlichkeit ihrer Sprache, hat uns für Odile Kennel eingenommen. Das Votum in unserer Regionalgruppe war sehr eindeutig.

In dem Jahr, in dem bei den BücherFrauen die Übersetzerinnen ins Licht gerückt werden sollen, ist es zudem besonders schön, eine Schreibende ausfindig gemacht zu haben, die exemplarisch darstellt, was die Bewegung zwischen den Sprachen bewirken kann für Denken und Literatur. Die Nominierung der Berliner BücherFrauen rückt außerdem nicht nur eine tolle Autorin und einen mutigen Text ins Licht, sondern auch eine literarische Gattung, die es im deutschsprachigen Raum sehr schwer hat, den Essay, und einen unabhängigen Verlag, der vornehmlich Lyrik verlegt, das Verlagshaus Berlin.