Wer ist die Autorin?
Radka Denemarková, geboren 1968, lebt als Autorin, Dramatikerin, Drehbuchautorin, Essayistin und Übersetzerin deutscher Literatur in Prag. Sie studierte Germanistik und Bohemistik an der Karls-Universität in Prag, wo sie 1997 promovierte. Unter anderem war sie am Institut für Tschechische Literatur der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik tätig sowie am Theater Na zábradlí, eine der wichtigsten Wirkungsstätten von Václav Havel.
Denemarková setzt sich in ihrem Werk mit dunklen und verdrängten Seiten der europäischen Geschichte auseinander, wie etwa mit der Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg, mit Antisemitismus oder patriarchalen Strukturen und der damit verbundenen Gewalt gegen Frauen. Ihre Werke wurden in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt.
Aufgrund ihrer Regimekritik und ihrer Freundschaft zu Dissident:innen wurde sie mit einem lebenslangen Einreiseverbot nach China bestraft.
Sie hat den nationalen tschechischen Literaturpreis Magnesia Litera schon in vier verschiedenen Kategorien (Prosa, Sachbuch, Übersetzung und Buch des Jahres) gewonnen.
Wer ist die Übersetzerin?
Eva Profousová, geboren 1963 in Prag, emigrierte 1983 nach Deutschland. In Hamburg und Glasgow studierte sie Slawistik und Geschichte. Seit 2002 arbeitet sie als freiberufliche Publizistin und Literaturübersetzerin. Für ihre Übersetzungen wurde wie schon mehrfach ausgezeichnet.
Worum geht es?
Das sagt der Verlag:
»Der große Roman über das heutige China
Peking ist der Sehnsuchtsort für eine Gruppe von Europäern, die nach China kommen, um sich zu finden und ihr Leben in neue Bahnen zu lenken. Doch den Möglichkeiten zur eigenen Entfaltung sind in dem kommunistischen Land starre Grenzen gesetzt. Die Begegnung mit chinesischen Dissidenten stellen ihre Wertvorstellungen auf die Probe, und sie alle geraten an einen dramatischen Wendepunkt in ihren Leben. Den Mittelpunkt dieser Gruppe bildet eine tschechische Schriftstellerin, die sich voller Überzeugung für demokratische Werte einsetzt und zum moralischen Leitstern für eine chinesische Studentin wird. Die gemeinsame Lektüre philosophischer Texte animiert die junge Frau schließlich zum politischen Widerstand – mit fatalen Folgen.«
Und der Klappentext lautet:
»China, heute: Während das Regime Menschen verschwinden lässt und Europa Geschichtsvergessenheit beschleicht, schlägt einer tschechischen Schriftstellerin die bleierne Stunde - sie wird Teil einer Tragödie in einem System, in dem die Wahrheit ein Sprengstoff ist.
Ein fulminanter Roman über Verantwortung und Schuld, den Nachhall der Vergangenheit und die unheilige Allianz von Kommunismus und Kapitalismus.«
Mit folgenden Preisen wurde der Roman bislang ausgezeichnet:
2019: Magnesia Litera – Buch des Jahres
2022: Literaturpreis des Landes Steiermark
2022: Brücke Berlin Literatur- und Übersetzerpreis
Warum haben wir uns für dieses Buch entschieden?
»Stunden aus Blei« ist eine Art dicht gewebter Teppich aus historischem Essay, politischer Analyse und magischem Realismus. Die präzise gezeichneten Charaktere werden immer auch als Teil der Geschichte mit ihren verwickelten Beziehungen zueinander und in ihrer Umgebung gezeigt. Anhand der unterschiedlichen Protagonistinnen wird die prekäre, widersprüchliche gesellschaftliche Rolle von Frauen in China und Tschechien bzw. Europa offensichtlich. Abhängigkeiten, Egos und Machtspiele beschreibt Radka Denemarková pointiert und mit all ihren gesellschaftlichen Interdependenzen, in diesem Zusammenhang werden patriarchale Zwänge und Zurichtungen plastisch. Schonungslos, wie mit einem Skalpell arbeitet sie sexistische Vorstellungen, zum Beispiel von Familie und wie sie Familien terrorisieren, heraus. Sie zeigt auf, wie ehemalige Kommunisten plötzlich sehr erfolgreich Kapitalismus machen und welche kolonialistischen und rassistischen Ideen dem europäisch-chinesischen Austausch eigentlich zugrunde liegen. Dazu beleuchtet sie auch die Vergangenheit, zum Beispiel indem die Schriftstellerin nach den Parallelen von 1968 in der Tschechoslowakei und 1989 in Peking forscht, oder indem Murmel versucht, der Vergangenheit seiner jüdischen Familie zu entkommen. Denemarkoás China ist ein Mehrfach-Ort, ein Ort, um das große Geld zu machen, Sehnsuchtsort der nach Weisheit Strebenden, ein Traumort für chinesische Nationalisten, für gehorsame Parteikader, die mühelos kapitalistisch und kommunistisch zugleich sein können, eine Hölle für alle Andersdenkenden. Denemarková zeigt all die Widersprüche meisterinnenhaft, während Blauelstern und schwarze Krähen den einen Weg zeigen. All das tut sie mit einer zarten, poetischen Sprache. Denn diese ganze Geschichte existiert eigentlich nur im Kopf des tausendjährigen, orangen Katers Pommerantsch.
»Stunden aus Blei« fesselt und fordert. Es ist auf über 800 Seiten anstrengend und belebend zugleich. Bei der Lektüre hinterfragt man sich unwillkürlich selbst, welche Vorstellungen das eigene Bild von Frau geformt haben; welche Bilder und Ideen von anderen Kulturen man als real ansieht, statt sie erst einmal zu überprüfen, wie wir aufgrund solcher Bilder einander missverstehen. Welche Werte wollen wir leben und nach welchen Werten leben wir eigentlich wirklich? Wann denken wir im Alltag darüber nach, was Freiheit für uns bedeutet? Was sie kostet und was sie schon gekostet hat? Wie genau wollen wir unsere Vergangenheit eigentlich überhaupt wissen? Wo glauben wir lieber Lügen, folgen vereinfachenden Erzählungen oder ziehen unseren Stolz dem Gedächtnis vor?