Bora Chung: Der Fluch des Hasen (Erzählungen)

Die koreanische Autorin Bora Chung hat in den USA Slawistik studiert, übersetzt heute aus dem Russischen und Polnischen und ist in ihrer Heimat eine gefeierte Autorin. Ob sie nun beim Studium in engen Kontakt zur europäischen Märchenwelt gekommen ist, oder ob sie die auch in Korea bekannten international verbreiteten Märchenmotive auf ihre eigene Weise umdeutet und anreichert, ist eine interessante Frage, beim Lesen und Genießen dieses wunderbaren Buches spielt sie aber keine Rolle. Märchenaffine Leserinnen werden immer wieder auf Bekanntes stoßen, oder das glauben, denn meistens geht alles ganz anders weiter. Oder es überrascht, dass das Ende dann doch wieder so ist wie in den Geschichten, an die wir uns erinnert fühlen. Gleich die erste Erzählung weist viele Parallelen zu Hans Christian Andersens „Der Schatten“ auf, wo sich der Schatten selbstständig macht und seinen Menschen am Ende ins Verderben stürzt. Hier ist es aber kein Schatten, sondern … nein, wird nicht verraten. Wenn eine Schwester nachts umgeht und ruft: „Wo ist mein Baby“, ist „Was macht mein Kind, was macht mein Reh“ nicht fern, aber bei Brüderchen und Schwesterchen auf Koreanisch geht es viel blutiger zu als bei den Brüdern Grimm. „Herrscher über Wind und Sand“, wo die Prinzessin unter allerlei Qualen den geliebten Prinzen erlösen muss, könnte aus „1001 Nacht“ stammen, nur nimmt auch hier alles eine ungeahnte Entwicklung. Der Hase des Titel schließlich, der ist entzückend, denn: „Gegenstände, die dafür bestimmt sind, mit einem Fluch belegt zu werden, sollten besonders hübsch sein.“ Kurzum, hinreißende, unterhaltsame und erschreckende Lektüre! Es wäre allerdings interessant gewesen, am Ende ein paar Bemerkungen zur Übersetzung bzw. zum Koreanischen zu bekommen. Der ziemlich konsequente Gebrauch des generischen Maskulinums überrascht im Buch einer Autorin von heute eben doch. Wann immer nicht ganz klar  ist, dass hier eine Frau gemeint ist, wird es maskulin ausgedrückt: „Manchem wird es gelingen, den Ärger, der durch die Außenwelt auf ihn eindringt, von sich fernzuhalten.“ Schreibt das Koreanische solche Wendungen vor? Wendungen wie „die weibliche Hauptdarstellerin“ lassen es vermuten, aber es wäre schön gewesen, mehr zu erfahren.

Bora Chung: Der Fluch des Hasen
übersetzt von Ki-Hyang
CulturBooks, Hamburg

Hardcover, 264 Seiten
ISBN: 978-3-95988-190-6
Preis 24 Euro

Eine Empfehlung von Gabriele Haefs

Dr. Gabriele Haefs arbeitet als freie Übersetzerin, u. a. aus dem Irischen, und Autorin. Ihr Buch "111 Orte in Oslo, die man gesehen haben muss“ erschien im Mai 2022 im Emons Verlag. Diesen Buchtipp schrieb sie mit Blick auf ein kleines Originalgemälde von Edith Somerville, das vor Jahren auf abenteuerliche Weise in ihren Besitz gelangt ist.

Foto: Miguel Ferraz 

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