Bucerius Kunstforum (Hrsg.): IN HER HANDS – Bildhauerinnen des Surrealismus

Kunstgeschichte unter Vorbehalt

Betrachtet man den Kanon der Kunstgeschichte, erhält man ein verzerrtes Bild. Über Jahrhunderte hinweg wurde das kreative Schaffen von Frauen systematisch marginalisiert, ignoriert oder an den Rand gedrängt. Der Kanon war und ist bis heute männlich, westlich und exklusiv geprägt. Besonders deutlich wird diese Verzerrung in einer Kunstrichtung wie dem Surrealismus, der sich der Befreiung des Unterbewussten verschrieb, aber zugleich an traditionellen Geschlechterrollen festhielt.
Dass es innerhalb dieser Bewegung Bildhauerinnen gab, die mit großem handwerklichem und intellektuellem Anspruch eigene Positionen entwickelten, wurde lange ausgeblendet. Ihre Wiederentdeckung ist kein nostalgischer Akt der Korrektur, sondern eine notwendige Erweiterung unseres Kunstverständnisses.

Warum Bildhauerinnen besonders sind
Über Jahrhunderte hinweg galt die Bildhauerei als eine „harte“ Disziplin: Sie war physisch fordernd, technisch komplex und prestigeträchtig. Frauen wurden aus Ateliers, Akademien und Werkstätten ausgeschlossen oder auf „weichere” Materialien und kleinere Formate verwiesen. Wer dennoch in diesem Feld sichtbar wurde, tat dies gegen strukturellen Widerstand und mit besonderer Entschlossenheit. Die surrealistischen Bildhauerinnen Sonja Ferlov Mancoba, Maria Martins und Isabelle Waldberg sind eindrucksvolle Beispiele für diese Form künstlerischer Selbstbehauptung. Sie schufen keine dekorativen Objekte, sondern radikale, oft monumentale Arbeiten, die sich mit Mythen, Sexualität, Körperlichkeit und Fremdheit auseinandersetzten jenseits des Erwartbaren und fern jeder Gefälligkeit.

Drei Künstlerinnen, drei Visionen

  • Maria Martins, widmete sich südamerikanischen Göttinnen, Ungeheuern und erotischen Chiffren und durchbrach mit ihren expressiven Terrakottaskulpturen das Klischee weiblicher Zurückhaltung.
  • Sonja Ferlov Mancoba verarbeitete ihre Auseinandersetzung mit afrikanischer Kunst, Kriegserfahrung und Isolation zu kraftvollen Masken- und Kriegerfiguren, die gesellschaftliche Rollenbilder unterlaufen.
  • Isabelle Waldberg wiederum kombinierte philosophische Tiefe mit formaler Klarheit und schuf feine, zugleich widerständige Strukturen – eine Kunst des Denkens in Materie. 

Diese Künstlerinnen arbeiteten in Paris, New York und Kopenhagen, den Knotenpunkten der Moderne. Und doch wurden sie aus dem kollektiven Gedächtnis verdrängt, während ihre männlichen Kollegen zu Ikonen wurden.

Sichtbarkeit ist kein Nebenschauplatz
Es geht weder um nachträgliche Gerechtigkeit noch um eine dekorative Ergänzung des Kanons. Es geht um die grundlegende Frage, wer in der Kunst gehört, gesehen und erinnert wird. Die Werke von Ferlov, Martins und Waldberg fordern nicht nur Anerkennung, sondern zwingen uns auch, den Begriff der Moderne neu zu denken: als vielstimmig, widersprüchlich und nicht länger männlich dominiert.

Der Kanon ist kein Naturgesetz
Diese Künstlerinnen waren keine Ausnahmeerscheinungen, sondern Teil der künstlerischen Avantgarde mit eigenem Ausdruck, eigener Sprache und eigenem Anspruch. Ihre jetzige Wiederentdeckung ist kein Gnadenakt, sondern ein längst überfälliger Schritt hin zu einer ehrlicheren und gerechteren Kunstgeschichte.

Bildhauerinnen im Surrealismus sind keine Fußnote, sondern gehören in die erste Reihe.
 

 


Bucerius Kunst Forum: 
In Her Hands – Bildhauerinnen des Surrealismus

Wiederentdeckung in 3D und Großformat: Visionärinnen der internationalen Kunstszene
Beiträge von K. Neuburger und R. Wiehager
Hirmer Verlag
Gebunden, 176 Seiten, 151 Abbildungen
ISB-N: 978-3-7774-4494-9
EURO 45,00
 

Eine Empfehlung von Yvonne de Andrés

Yvonne de Andrés arbeitet als Kuratorin und Kulturmanagerin für Verlage, Stiftungen und Organisationen. Sie ist Mitglied im Vorstand des Deutschen Frauenrats und dort zuständig für das Thema Intersektionalität.

Transparenzhinweis: Die Empfehlung erfolgt aus Eigeninteresse und nicht aus wirtschaftlichen Gründen.