Dulce Chacóns Roman „Was Hortensia nicht mehr erzählen konnte“

Ein Roman gegen das Vergessen

Widerstehen heißt siegen: Eine Geschichte der Frauen in der spanischen Nachkriegszeit

Dulce Chacóns Roman „Was Hortensia nicht mehr erzählen konnte“ (Originaltitel: La voz dormida) ist weit mehr als ein gewöhnliches Werk der Erinnerungsliteratur. Er ist ein literarisches Denkmal für jene Frauen, die in der spanischen Nachkriegszeit im Schatten der offiziellen Geschichtsschreibung lebten, litten und starben – oft namenlos und ohne dass ihre Geschichten je gehört wurden. Mit feinfühliger Sprache und einer fast poetischen Bildkraft verleiht Chacón den Stimmen dieser „schlafenden“ Frauen eine ungeahnte Präsenz. 

Im Zentrum stehen vier Figuren: Hortensia, Elvira, Tomasa und Reme. Hortensia ist hochschwanger und zum Tode verurteilt. Dieses Schicksal trägt sie mit unerschütterlicher Würde. Elvira leidet allein aufgrund der politischen Haltung ihres Bruders. Tomasa hat den Mord an ihrer gesamten Familie überlebt. Reme wiederum sitzt zwölf Jahre im Gefängnis, weil sie eine republikanische Flagge genäht hat. Sie alle sind exemplarische Vertreterinnen einer Generation, die unter Franco verfolgt, eingesperrt oder hingerichtet wurde – oft allein aufgrund ihrer Überzeugungen oder familiären Bindungen.

Außerhalb der Gefängnismauern bewegt sich Pepita, Hortensias jüngere Schwester. Sie versteht sich weder als „Rot“ noch als Faschistin und möchte eigentlich nichts mit politischen Verstrickungen zu tun haben. Doch ihre Besuche bei ihrer Schwester ziehen sie immer tiefer in die Geschichten und Schicksale der anderen Frauen hinein. So wird sie zu einer Brücke zwischen der Welt der Gefangenen und der Welt draußen – und zugleich zu einer Figur, an der deutlich wird, dass niemand unberührt von der Gewalt der Geschichte bleibt.

Chacón entfaltet ihre Erzählung nicht durch nackte Fakten, sondern durch stille Gesten und eindringliche Momente: ein geflochtener Zopf, ein nicht gegebener Kuss, ein Brief aus dem Gefängnis. Gerade diese kleinen Bilder lassen das Grauen jener Zeit erfahrbar werden. Sie erzählt von unerschütterlicher Liebe, wie jener zwischen Paulino und Pepita, von stiller Fürsorge, wie jener von Doña Celia, aber auch von Verhärtung und Hass, die das Leben jener Epoche prägten.

„Was Hortensia nicht mehr erzählen konnte“ ist keine leichte Lektüre. Die Traurigkeit liegt schwer auf den Seiten und doch birgt das Buch Hoffnung – Hoffnung darauf, dass das Erzählen selbst ein Akt des Widerstands ist. Indem Dulce Chacón ihre Protagonistinnen mit Würde, Tiefe und Menschlichkeit ausstattet, rettet sie sie aus dem Vergessen.

Das Werk hallt lange nach und erinnert daran, dass historische Gerechtigkeit oft in den Geschichten beginnt, die wir uns zu erzählen trauen. Wer „La voz dormida“ liest, begegnet nicht nur Literatur, sondern einer verdrängten Wahrheit.

Was Hortensia nicht mehr erzählen konnte 
Ein historischer Roman einer wichtigen spanischen Autorin über widerständige Frauen.
 


Was Hortensia nicht mehr erzählen konnte
Ein historischer Roman einer wichtigen spanischen Autorin über widerständige Frauen.
Dulce Chacón,
Aus dem Spanischen von Friederike Hofert

Originaltitel: La voz dormida

2024, w_orten & meer
424 Seiten, Softcover  
ISBN 978-3-945644-45-4
EURO 28,00 

 

Eine Empfehlung von Yvonne de Andrés

Yvonne de Andrés verbindet kuratorische Expertise mit kulturpolitischem Engagement. Als Kuratorin und Kulturmanagerin arbeitet sie für renommierte Verlage, Stiftungen und Organisationen. Besonders engagiert ist sie in der Gleichstellungspolitik: Sie war Mitglied im Vorstand des Deutschen Frauenrats und vertritt dort die Bücherfrauen. Aktuell kuratiert sie das Sachbuchprogramm der Doxumentale und ist für die Cordts Art Foundation tätig – an der Schnittstelle von Kunst, Bildung und gesellschaftlichem Diskurs.

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