Racha Kirakosian entmystifiziert die Ekstase

Cover: Racha Kirakosian "Berauscht der Sinne beraubt"

„Berauscht der Sinne beraubt“ – Warum Ekstase nicht gleich Ekstase ist

Racha Kirakosian, Professorin für Germanistische Mediävistik an der Universität Freiburg, wurde auf dem internationalen Dokumentarfilm- und Medienfestival Dokumentale in Berlin für ihr Werk „Berauscht der Sinne beraubt: Eine Geschichte der Ekstase“ mit dem Preis für das beste Sachbuch ausgezeichnet. In ihrer Forschung widmet sich Kirakosian der Schnittstelle von Textgeschichte und Religionsphilosophie des Mittelalters. In ihrem Buch erweitert sie diesen Fokus und zeigt, dass Trance und Entrückung kultur- und epochenübergreifende Phänomene sind – von Meister Eckhart bis zur Love Parade. Mit analytischer Klarheit und erzählerischem Schwung lädt sie die Leser:innen ein, die vielfältigen Facetten von Ekstase zu entdecken und traditionelle Vorstellungen kritisch zu hinterfragen.

Love Parade, religiöse Rituale, Stadionbesuche

Ekstatische Momente begegnen uns überall: im Rausch der Musik, im Tanz, bei religiösen Zeremonien oder in der Begeisterung von Stadien. Kirakosian nimmt uns mit auf eine spannende Reise durch die Geschichte dieser besonderen Erfahrungen – von der Antike bis heute. Sie zeigt, wie menschlich der Wunsch nach intensiven Gefühlen ist und wie vielschichtig Ekstase sein kann: voller Freude, Inspiration – aber manchmal auch voller dunkler Seiten.

Von Orakeln bis Rausch

Kirakosian verbindet Religionsgeschichte, Kulturgeschichte und Medizin, um die vielen Facetten des Ekstatischen zu beleuchten. Auf ihrem Rundgang begegnen uns Orakel, Sufi-Derwische, Mystikerinnen des Mittelalters und moderne Rauscherfahrungen. Besonders eindrucksvoll ist das Porträt der Mystikerin Christina von Hane, deren extreme Askese zu körperlichen und spirituellen Grenzerfahrungen führte. Kirakosian zeigt hier, wie historische Phänomene oft eigene Gesetze haben, jenseits heutiger Erklärungsversuche.

Ekstase von Geburt an?

Eine Geburt sei schmerzhaft, heißt es, aber auch ekstatisch – sobald das Kind da ist, erfahre die Mutter einen Zustand reiner Freude. So wurde es Kirakosian erzählt. Doch bei ihrer eigenen Geburtserfahrung empfand die Mediävistin eher Erleichterung als Verzückung. Für sie ein Beispiel dafür, wie wirkmächtig – und gleichzeitig fragwürdig – Narrative rund um Ekstase noch heute sind.

Visionäre Nonnen mit Sexdefizit?

Kirakosian hinterfragt gängige Vorstellungen über Ekstase: Ist der Zustand höchster Verzückung irrational oder pathologisch, wie westliches Denken seit der Aufklärung gern behauptet? Hatten visionäre Nonnen des Mittelalters oder Hysterikerinnen des Fin de Siècle wirklich ein „Sexdefizit“? Welche Rolle spielten Schmerzen, Askese oder Rauschmittel in der Geschichte ekstatischer Erfahrungen?

Moderne Erklärungen unter der Lupe

Oft werden historische Visionen mit Substanzen erklärt: Die mystischen Erfahrungen mittelalterlicher Nonnen sollen etwa auf Vergiftungen mit Mutterkornpilz zurückgehen, einem chemischen Verwandten von LSD. Kirakosian kritisiert, dass solche Erklärungen die Erfahrungen aus ihren jeweiligen religiösen, sozialen und historischen Kontexten reißen. Ekstase sei eben nicht gleich Ekstase – sie sei flüchtig, schwer greifbar und höchst persönlich, daher leicht zu instrumentalisieren.

Ekstase und Macht

Ein Kapitel widmet sich der Nachkriegssozialwissenschaft, die den Erfolg der Nazis als Ekstase-Phänomen zu erklären versuchte: Hitler als mächtiger Schamane, das Volk in tranceähnlichem Zustand als Opfer. Kirakosian zeigt, wie politische und ideologische Interessen das Verständnis von Ekstase verzerren können.

Von Mystikerinnen bis Techno-Partys

Die Autorin verbindet das Mittelalter mit unserer Gegenwart: Die selbst auferlegten Qualen christlicher Mystikerinnen werden kontrastiert mit Sadomaso-Praktiken heute. Sufi-Derwische, die sich in ekstatischen Tänzen verlieren, finden Parallelen zu kollektivem Rausch auf Techno-Partys. Kirakosian lässt den Leser spüren, dass Tanz und Musik vielleicht die intensivsten Vehikel für spirituelle Erfahrungen unserer Zeit sind.

Weibliche Ekstase und überraschende Wendungen

Kirakosian rückt besonders weibliche Erfahrungen ins Licht, die oft missverstanden oder dämonisiert wurden. Dabei verliert sie nie den spielerischen Blick: Auch kleine, überraschende Exkurse – wie etwa zu Oktopussen auf MDMA – machen das Lesen unterhaltsam und neugierig.

Ambivalenz erleben

Ekstase ist nie nur schwarz oder weiß. Sie kann beflügeln, verwirren, inspirieren – und manchmal sogar verstören. Kirakosian zeigt diese ganze Bandbreite, ohne Antworten aufzudrängen, aber mit einem klaren, neugierigen Blick auf das, was uns Menschen antreibt.

Ekstatische Oktopusse und andere Überraschungen

Wer glaubt, es ginge nur um Menschen, wird überrascht: Kirakosian berichtet, dass Oktopusse unter MDMA plötzlich Körperkontakt suchen und soziale Nähe zeigen. Dieses Detail unterstreicht spielerisch, wie vielfältig Ekstase sein kann – und wie schwer sie zu fassen ist.

Racha Kirakosian bietet in „Berauscht der Sinne beraubt“ eine kluge, vergnügliche und lehrreiche Expedition durch 2500 Jahre Rausch- und Verzückungsgeschichte. Mit über 300 Seiten voller Informationen, überraschender Details und verblüffender Vergleiche zeigt sie: Ekstase ist facettenreich, ambivalent und niemals einfach zu erklären – aber immer faszinierend. Dieses Buch ist eine Einladung, die eigene Vorstellung von Ekstase zu hinterfragen und sich inspirieren zu lassen.


Berauscht der Sinne beraubt: Eine Geschichte der Ekstase
Racha Kirakosian
Propyläen, 2025
Kartoniert, 400 Seiten
ISBN: 978-3549100349
Preis: 28 Euro
 

Eine Empfehlung von Yvonne de Andrés

Yvonne de Andrés verbindet kuratorische Expertise mit kulturpolitischem Engagement. Als Kuratorin und Kulturmanagerin arbeitet sie für renommierte Verlage, Stiftungen und Organisationen. Besonders engagiert ist sie in der Gleichstellungspolitik: Sie war Mitglied im Vorstand des Deutschen Frauenrats und vertritt dort die Bücherfrauen. Aktuell kuratiert sie das Sachbuchprogramm der Doxumentale und ist für die Cordts Art Foundation tätig – an der Schnittstelle von Kunst, Bildung und gesellschaftlichem Diskurs.

Transparenzhinweis: Die Empfehlung erfolgt aus Eigeninteresse und nicht aus wirtschaftlichen Gründen.