Regine Normann: Die Angelika-Wanderung (Sagen und Erzählungen)

Eine Gruppe von Menschen sitzt an einem Feuer, und um die Nacht herumzubringen, erzählen sie reihum Geschichten – eine „Urszene der Literatur“, wie die Herausgeberin und Übersetzerin Dörte Giebel in ihrem Nachwort schreibt. Schauplatz ist Nordnorwegen vor etwa hundertfünfzig Jahren. Die besagten Menschen machen sich auf, um Angelikawurz zu sammeln, ein Kraut, das als Gewürz, Leckerei und Arznei hoch im Kurs steht (und übrigens auch als Tabakersatz, wie ein alter Mann kichernd bemerkt). Ehe sie sich am Lagerfeuer niederlassen, sehen sie in der Ferne einige winzige Torfhütten, und auf die Frage: „Wer wohnt da eigentlich?“, kann jemand antworten: „Der Bären-Jørn“. Nun ist klar, dass erzählt werden muss, wie Jørn zu diesem Beinamen kam, und so gibt ein Wort das andere, die Erzählungen werden immer phantastischer, es wimmelt nur so von Wiedergängern, Zauberkünsten und Unterirdischen, bei denen man nie weiß, ob sie den Menschen Gutes oder Böses wollen, die Menschen aber zu gern mit süßer Musik in ihre Berge locken. Wir erfahren, dass die Glockenblumen eigentlich „Jesu blaue Augen“ heißen, und die Frage wird diskutiert, aber nicht eindeutig entschieden, ob die Trolle mit der technischen Entwicklung Schritt halten und sich für ihre Boote ebenfalls Dampfmaschinen anschaffen werden. Verstorbene Bräutigame rächen sich, wenn die Braut keine ewige Treue hält, und verschollene Fischer ersinnen noch im Tod Möglichkeiten, um gefunden zu werden, da sie doch in geweihter Erde bestattet werden wollen. Die Toten können sich aber auch irren und aus Versehen den Falschen verfolgen, das zeigt sich zum Beispiel an einer Sage, wo ein ertrunkener Fischer gerade den Schiffsgenossen heimsucht, der alles getan hat, um ihn in letzter Sekunde doch noch zu retten!

Die norwegische Autorin Regine Normann (1867 – 1931) ist in ihrer Heimat eine von den Großen, hierzulande aber muss sie noch entdeckt werden. Dieser kleine Band mit phantastischen Erzählungen könnte und sollte ihr dabei helfen. Er ist ideal für die Urlaubszeit, durch das handliche Format passt er in die Jackentasche, und die einzelnen Sagen sind gerade lang genug, um  zwischen zwei Haltestellen gelesen zu werden. Das „Kabinett der phantastischen Geschichten“ des Verlag JMB ist übrigens ein Fundgrube gerade für Autorinnen, die dringend (wieder)entdeckt werden sollten

Regine Normann: Die Angelika-Wanderung, Sagen und Erzählungen
übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Dörte Giebel
jmb Verlag

Broschur, 80 Seiten
ISBN: 978-3-95945-043-0
Preis 9 Euro

Eine Empfehlung von Gabriele Haefs

Dr. Gabriele Haefs arbeitet als freie Übersetzerin, u. a. aus dem Irischen, und Autorin. Ihr Buch "111 Orte in Oslo, die man gesehen haben muss“ erschien im Mai 2022 im Emons Verlag. Diesen Buchtipp schrieb sie mit Blick auf ein kleines Originalgemälde von Edith Somerville, das vor Jahren auf abenteuerliche Weise in ihren Besitz gelangt ist.

Foto: Miguel Ferraz 

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