Sara Johnsen: Für Dancing Boy (Roman)
Norwegen in einigen Jahrzehnten. Es hat mehrere Pandemien gegeben, der Klimawandel sorgt dafür, dass in Norwegen Wein angebaut werden kann, das Land wird regiert von der „Vereinigungspartei“, die alle genau überwacht und nebenbei die Träume der heutigen rechtspopulistischen Parteien wahrgemacht hat. Menschen mit Migrationshintergrund sind kaum zu finden, es gibt nur „Gastarbeiter“ aus Spanien und Polen, die aber, wie der Name schon sagt, nicht ewig bleiben werden. Gleichgeschlechtliche Beziehungen sind nicht direkt verboten, werden aber nicht gern gesehen, evangelikale Sekten florieren, auch beruflich aktive Frauen reden von sich gern im generischen Maskulinum, und den jungen Leuten wird eingehämmert, dass sie ihre Pflichten fürs Vaterland zu erfüllen haben. Für Jungs heißt das: Militärdienst leisten, die Grenzen verteidigen (gegen unerwünschte Einwanderung, wie wir zwischen den Zeilen lesen), die Mädchen sollen sich als Leihmütter zur Verfügung stellen. Die durch die Pandemien reduzierte Bevölkerung muss wachsen, und leider scheinen Paare, die sich Kinder leisten können und damit als Eltern erwünscht wären, Probleme mit dem Schwangerwerden zu haben. Die meisten Personen im Buch wirken nicht unzufrieden mit diesen Zuständen, sie kennen es nicht anders.
Lizz hat mit ihrem Mann Boje eine lukrative Firma gegründet: Menschen mit Problemen aller Art bekommen bei ihnen ein maßgeschneidertes Orgasmusprogramm, das sie von ihren Traumata befreien soll. Doch eines Tages kommt ein Kunde, der bei Lizz alte Wunden aufreißt. Auch sie hat sich vor Jahren als Leihmutter zur Verfügung gestellt, und das gleich zweimal. Sie weiß nicht, wo diese Kinder jetzt leben, wie sie heißen, wie sie aussehen, doch dass ihre über alles geliebte Tochter Thelma irgendwo zwei Halbbrüder hat, lässt Lizz keine Ruhe. Dieser neue Kunde könnte einer der verlorenen Söhne sein, denn hat er nicht auch so ein Muttermal, wie das erste Kind eins hatte? Wenn Lizz sich richtig erinnert, das ist ja auch noch die Frage.
Eine Dystopie also, aber durchaus mit skurrilen und witzigen Einsprengseln, dazu mit historischen Parallelen, das Gebärheim „Ønsket“ (Erwünscht) z.B. ist sicher nicht zufällig den Lebensbornheimen der Nazis nachgebildet, von denen es auch in Norwegen etliche gab. Der Norwegerin Sara Johnsen ist ein Roman geglückt, der der Leserin keine Ruhe lässt und an dem wir noch lange in Gedanken weiterdichten.
Sara Johnsen: Für Dancing Boy
übersetzt von Anja Lerz
Verlag Antje Kunstmann
Hardcover, 320 Seiten
ISBN: 978-3-945614
Preis 25 Euro
Eine Empfehlung von Gabriele Haefs
Dr. Gabriele Haefs arbeitet als freie Übersetzerin, u. a. aus dem Irischen, und Autorin. Ihr Buch "111 Orte in Oslo, die man gesehen haben muss“ erschien im Mai 2022 im Emons Verlag. Diesen Buchtipp schrieb sie mit Blick auf ein kleines Originalgemälde von Edith Somerville, das vor Jahren auf abenteuerliche Weise in ihren Besitz gelangt ist.
Foto: Miguel Ferraz
Transparenzhinweis: Die Empfehlung erfolgt aus Eigeninteresse und nicht aus wirtschaftlichen Gründen.