Ein Kollektivroman über Lust, Scham und die Macht des anonymen Schreibens
Wir kommen – und das mit Wucht – Ein literarisches Experiment
Ein literarisches Experiment
Was passiert, wenn sich 18 Autor*innen anonym über Sexualität austauschen? „Wir kommen“ gibt eine überraschend klare Antwort: Es entsteht ein Text, der berührt, aufrüttelt, verwirrt – und dabei erfrischend unprätentiös daherkommt. Herausgegeben vom feministischen Kollektiv Liquid Center vereint dieser Kollektivroman Stimmen unterschiedlicher Herkunft, Identität und Generation – vom literarischen Shootingstar Kim de l’Horizon bis zur etablierten Autorin Ulrike Draesner. Über Wochen hinweg haben sie gemeinsam, aber anonym, in einem geteilten Online-Dokument geschrieben. Das Ergebnis ist ein vielstimmiger Text über weibliches und queeres Begehren, der sich jeder literarischen Konvention entzieht.
Anonymität als Befreiungsschlag
Gerade weil niemand namentlich erkennbar ist, eröffnen sich in „Wir kommen“ Räume, die in der Literatur sonst oft verschlossen bleiben. Tabus werden nicht gebrochen, sondern schlicht ignoriert. Hier schreibt niemand, um zu gefallen oder zu schockieren. Stattdessen entsteht ein intimer Ton, der berührt – mal roh, mal poetisch, mal zärtlich, mal wütend. Es geht um Lust, Alter, Gewalt, Scham und Körperlichkeit, jedoch ohne die typischen Selbstinszenierungen, die viele autofiktionale Texte durchziehen. Dadurch wirkt der Text radikaler als mancher literarische Skandalroman – gerade weil er so uneitel ist.
Was ist daran besonders?
Das wirklich Neue an diesem Buch ist nicht das Thema, denn über Sex wurde bereits viel geschrieben. Es ist die Form: ein kollektives, anonymes Schreiben, das die Autorschaft bewusst aushebelt. Man liest nicht „bei Kim de l’Horizon“ oder „bei Erica Fischer“, sondern in einem Wir, das durchlässig und changierend ist, aber auch kraftvoll. Durch diese literarische Selbstauflösung entsteht ein Resonanzraum, in dem sich nicht die Egos, sondern die Erfahrungen begegnen.
Warum lohnt sich die Lektüre?
„Wir kommen“ ist nämlich mehr als nur ein literarisches Projekt über weibliche Lust. Es ist ein politischer Text, der aufzeigt, wie eng Sprache, Scham und Macht miteinander verbunden sind – und wie befreiend es sein kann, diese Verhältnisse aufzubrechen. Die Autor*innen schreiben sich frei von Zuschreibungen, Erwartungen und der allgegenwärtigen Selbstzensur. Heraus kommt ein wilder, manchmal sperriger, aber immer kluger Text, der sich nicht in Narrativen verliert, sondern im kollektiven Erleben etwas Universelles sichtbar macht.
Und die Kritik?
Ja, es gibt auch Stellen, die mäandern oder sich verlieren. Und ja, man kann sich fragen, warum die Perspektive von cis-Männern außen vor bleibt. Aber genau darin liegt die Stärke des Buches: Es erhebt keinen universellen Wahrheitsanspruch, sondern schafft einen Gegenraum. Einen Raum, in dem endlich andere Stimmen laut werden dürfen. Nicht perfekt, aber notwendig.
„Wir kommen” ist kein leichter, aber ein wichtiger Roman. Ein mutiger. Und ein aufregender. Wer Literatur nicht nur als ästhetisches Vergnügen, sondern auch als gesellschaftlichen Spiegel begreift, sollte diesem kollektiven Stimmengewirr unbedingt Gehör schenken.
Wir Kommen
Hrsg. von Liquid Center – Kollektivroman
Fester Einband mit Schutzumschlag, 208 Seiten
ISBN: 978-3-8321-6833-9
Preis: 25 Euro
Eine Empfehlung von Yvonne de Andrés
Yvonne de Andrés verbindet kuratorische Expertise mit kulturpolitischem Engagement. Als Kuratorin und Kulturmanagerin arbeitet sie für renommierte Verlage, Stiftungen und Organisationen. Besonders engagiert ist sie in der Gleichstellungspolitik: Sie war Mitglied im Vorstand des Deutschen Frauenrats und vertritt dort die Bücherfrauen. Aktuell kuratiert sie das Sachbuchprogramm der Doxumentale und ist für die Cordts Art Foundation tätig – an der Schnittstelle von Kunst, Bildung und gesellschaftlichem Diskurs.
Transparenzhinweis: Die Empfehlung erfolgt aus Eigeninteresse und nicht aus wirtschaftlichen Gründen.
