Eine literarische Spurensuche nach Katastrophe, Identität und Sprache
Zwischen Trümmern und Wahrheit: Daryll Delgados „Überreste“
Daryll Delgados Roman beginnt mit einem Schockmoment – nicht als Szene, sondern als Ahnung: Etwas Ungeheures ist geschehen. Es ist der November 2013, als der Supertaifun Haiyan (Yolanda) die philippinische Stadt Tacloban verwüstet. Tausende Menschen sterben, ganze Stadtteile werden fortgerissen und die Infrastruktur bricht zusammen. Delgado, die selbst in Tacloban aufgewachsen ist, reiste unmittelbar nach der Katastrophe dorthin zurück und verarbeitete ihre Erfahrungen in diesem eindrücklichen, vielschichtigen und politisch wachen Roman.
Im Zentrum steht Ann, eine Journalistin aus Manila, die in ihre Heimatstadt zurückkehrt, um über die Nachwirkungen des Taifuns zu berichten. Doch bald wird klar: Die Katastrophe ist nicht nur ein äußeres Ereignis, sondern trifft auch auf persönliche und gesellschaftliche Bruchstellen. Ann, die zunächst kühl analysiert, wird mit verdrängten Familiengeschichten, moralischen Ambivalenzen und einem kollektiven Trauma konfrontiert, das sich nicht einfach dokumentieren lässt.
Delgado gelingt es, den Ausnahmezustand in literarische Form zu bringen – ohne Pathos, aber mit großer emotionaler Tiefe. Die Zerstörung der Stadt spiegelt sich auch in den inneren Rissen ihrer Figuren wider. Besonders eindrucksvoll ist die Auseinandersetzung mit Sprache: Ann entdeckt ihre fast vergessene Muttersprache Waray wieder – eine Sprache, die nicht nur ihre Herkunft, sondern auch ihre Erinnerung und ihre Zugehörigkeit symbolisiert. Delgado hat bewusst viele Waray-Ausdrücke in den englischen Originaltext eingebaut, die in der hervorragenden Übersetzung von Gabriele Haefs erhalten geblieben sind. Dadurch gewinnt der Text an Eigenklang und kultureller Dichte.
„Überreste“ ist kein Katastrophenroman im herkömmlichen Sinne. Vielmehr erzählt Delgado, wie sich politisches Versagen, koloniale Strukturen und familiäres Schweigen in Krisen überlagern. Sie zeigt, wie Hilfsstrukturen versagen, wie Gerechtigkeit ausbleibt und wie schwer es ist, vom „Wiederaufbau“ zu sprechen, wenn die seelischen Fundamente wanken. Dabei bleibt sie nah an ihren Figuren, ohne je ins Sentimentale abzurutschen.
Ein weiterer Verdienst des Romans ist seine klare Positionierung im Kontext der philippinischen Literatur. In dieser sind Taifune laut Delgado nicht nur Wetterphänomene, sondern kulturelle Konstanten, die in Liedern, Filmen und Erzählungen eine Rolle spielen. Sie stehen für das zyklische Durchleben von Verlust, aber auch für Widerstandskraft und Überleben. „Überreste” ist in diesem Sinne ein Roman über das, was bleibt: Erinnerungen, Sprachen, Beziehungen, Schuld – und die Frage, wie man weitermacht, wenn das Fundament fortgespült wurde.
Ein wichtiger und berührender Roman von einer starken Stimme aus Südostasien: politisch präzise, literarisch überzeugend und zutiefst menschlich.
Daryll Delgado, Überreste
Übersetzt: Gabriele Haefs
Fester Einband mit Schutzumschlag, 304 Seiten
ISBN_ 978-3-520-63003-2
Preis: 25 Euro
Eine Empfehlung von Yvonne de Andrés
Yvonne de Andrés verbindet kuratorische Expertise mit kulturpolitischem Engagement. Als Kuratorin und Kulturmanagerin arbeitet sie für renommierte Verlage, Stiftungen und Organisationen. Besonders engagiert ist sie in der Gleichstellungspolitik: Sie war Mitglied im Vorstand des Deutschen Frauenrats und vertritt dort die Bücherfrauen. Aktuell kuratiert sie das Sachbuchprogramm der Doxumentale und ist für die Cordts Art Foundation tätig – an der Schnittstelle von Kunst, Bildung und gesellschaftlichem Diskurs.
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