Alice Berend: Frau Hempels Tochter (Roman)

Ein Großstadtroman voller Charme und weiblicher Stärke
Alice Berends Frau Hempels Tochter ist eine unterhaltsame Milieustudie des Berliner Kleinbürgertums um 1910 – detailreich, ironisch und überraschend modern. Im Mittelpunkt steht die Familie Hempel: Vater Schuster, Mutter Portiersfrau, Tochter Laura – zart, hübsch, ehrgeizig. Die Eltern träumen vom gesellschaftlichen Aufstieg ihrer Tochter, doch Lauras Liebe zu einem verarmten Grafen macht ihnen einen Strich durch die Rechnung.
Berends Sprache ist farbig, fein beobachtet und von liebevoller Ironie durchzogen. Die 33 Kapitel zeichnen ein lebendiges Bild des damaligen Berliner Alltags - vom Mietshaus bis zur „Wunderwiese“. Fußnoten erläutern Begriffe, die heute nicht mehr gebräuchlich sind.
Besonders bemerkenswert ist die Darstellung weiblicher Selbstbestimmung. In einer Zeit, in der Frauen kaum Rechte hatten, zeigt Berend Figuren mit Rückgrat und Einfluss: Frau Hempel verwaltet nicht nur die Sparbücher, sondern investiert gezielt und klug - zum Beispiel in eine Badeanstalt, mit der sie sich aus dem Souterrain ins Grüne emanzipiert. Auch Nebenfiguren wie die herrschsüchtige Gräfin Prillberg oder die selbstbewussten Frauen im Haus zeigen: Hier wird weibliche Handlungsmacht geschildert, nicht nur weibliche Opferrolle
Frau Hempels Tochter ist keine dramatische Geschichte mit atemloser Spannung - und will es auch gar nicht sein. Vielmehr lebt der Roman von seinem genauen Blick, den feinen Alltagsbeobachtungen und einer charmanten Ironie. Wer sich darauf einlässt, wird mit einem herzerwärmenden, klugen Buch voller Humor, Menschlichkeit und überraschender Aktualität belohnt.
Alice Berend – einst eine gefeierte Autorin der 1910er und 20er Jahre – ist eine Wiederentdeckung wert. Ihr literarischer Stil, ihre Figurenzeichnung und ihr Gespür für die sozialen Strukturen ihrer Zeit machen die Tochter der Frau Hempel zu einem kleinen Juwel der deutschen Literatur.
Alice Berend, Frau Hempels Tochter
Reclam Verlag, 2025
Gebunden mit Fadenheftung, Lesebändchen, 200 Seiten
ISBN: 978-3-15-011523-7
Preis 22,00 Euro

Eine Empfehlung von Yvonne de Andrés
Yvonne de Andrés arbeitet als Kuratorin und Kulturmanagerin für Verlage, Stiftungen und Organisationen. Sie ist Mitglied im Vorstand des Deutschen Frauenrats und dort zuständig für das Thema Intersektionalität.
Transparenzhinweis: Die Empfehlung erfolgt aus Eigeninteresse und nicht aus wirtschaftlichen Gründen.