Anaïs Barbeau-Lavalette: Sie und der Wald (Roman)
Take Care“ ist das Motto der neuen Buchreihe Diogenes Tapir. Der Roman „Sie und der Wald“ der kanadischen Autorin Anaïs Barbeau-Lavalette (in wunderbar stimmiger Übersetzung von Anabelle Assaf!) ist Teil dieses ersten Programms.
Während des Corona-Lockdowns fliehen zwei Paare und fünf Kinder aus der Stadt in den Wald. Sie erhoffen sich Weite und Nähe in einer Phase der Enge und des Abstands. Doch das Sommerhaus, in dem die Erzählerin Anaïs Teile ihrer Kindheit verbrachte, ist klein. Fünf Menschen schlafen in einem Zimmer. Das Leben ist exakt kalkuliert: Zeit, Vorräte, Wörter, Rückzug und Bewegung. Für die Kinder fabriziert Anaïs am laufenden Band „Glück mit der Brechstange“. Es heißt: „Alles von mir verdampft in den anderen, ich bin völlig leer.“
Und doch reißt der Text Türen und Wände ein, eine Mutter erschreibt sich einen Raum in und mit der Natur. Was sich als Eskapismus lesen ließe – immerhin verwebt eine „Femme forêt“, so der Titel der französischen Originalausgabe, ihr Sein mit den Pflanzen, Tieren und Wesen des Waldes –, ist eine Hinwendung zum Hier und Jetzt: „Auf der Türschwelle kremple ich noch schnell eine Hose um, tupfe einen Mundwinkel sauber und flechte einen Zopf. Ich erobere mir den Sinn dieser Gesten zurück. Ich bestimme, wie großartig das Alltägliche ist.“
„Sie und der Wald“ ist ein Roman aus kleinen, lose verbundenen Texten. Märchenhaftes durchdringt botanisches Wissen, Traumartiges Alltägliches, das Leseerlebnis gleicht einer Meditation: Gedanken ziehen vorüber, Zeiten verschwimmen, die eigene Geschichte verbindet sich mit fremden. Glück und Schmerz, Leben und Tod werden eins. Lesend werde ich unscharf und zugleich bin ich wach und gelassen.
Jetzt möchte ich mich gemeinsam mit meinem Kind im Wald auf eine Lichtung legen.
Anaïs Barbeau-Lavalette, Sie und der Wald
übersetzt aus dem Französischen von Anabelle Assaf
Diogenes Verlag, 2024
gebunden, 240 Seiten
ISBN: 978-3-257-07295-2
Preis: 24 Euro
Eine Empfehlung von Julia Ditschke
Julia Ditschke lebt als Schriftstellerin in Hamburg. Zuletzt hat sie zusammen mit der Hamburger Kulturbehörde ein Residenzstipendium für Schriftsteller:innen und bildende Künstler:innen mit Kindern initiiert (Parents in Arts). Foto: Gunter Glücklich
Transparenzhinweis: Die Empfehlung erfolgt aus Eigeninteresse und nicht aus wirtschaftlichen Gründen.