Eris von Lethe: Es gibt keinen Kaffee im Café del Boulevard
„Interessante Menschen zu treffen, gefällt mir immer.“ Das ist so einer der Sätze, die in diesem Roman sofort ins Auge springen: Ja, geht mir auch so, denkt die Leserin entzückt und liest voller Spannung weiter. Es gibt noch mehr Sprüche solcher Art, die durchaus an Aphorismen heranreichen. Nach einer Sammlung von Kurzgeschichten, einem kurzen Roman und etlichen Erzählungen in Anthologien ist dieser umfangreiche Roman das neueste Werk der Autorin Eris von Lethe, die im bürgerlichen Leben anders heißt und unter ihrem anderen Namen Fachbücher aus ihrem medizinischen Spezialgebiet verfasst hat.
Das Buch fängt allerdings nicht so leicht beschwingt an, wie das obige Zitat es vielleicht erwarten lässt. Wir befinden uns auf der sonnigen und überaus beliebten Ferieninsel Mallorca, und am Strand des kleinen Ortes Paguera wird spät in der Nacht ein Toter aufgefunden, dessen Identität zunächst unklar ist. Die Polizei wird eingeschaltet, der junge Mann, den in der Urlaubsidylle der Tod ereilt hat, ist zweifellos ein Ausländer, eine Spur weist in die Niederlande – und nun könnte es weitergehen wie in einem Krimi, es hätte vielleicht sogar ein guter Krimi werden können. Aber Eris von Lethe will mehr. Was übrigens schon ihr Name zeigt. In der griechischen Mythologie ist Eris eine Göttin, die für Zwietracht, Streit, Rache steht. Lethe dagegen ist die Göttin des Vergessens. Und das Walten beider Göttinnen muss im Menschenleben zusammengebracht und auf irgendeine Weise vereint und entschärft werden. So tiefgreifende Gedanken machen sich die Personen im Roman allerdings nicht. Sie haben eigentlich auch keine Lust, sich mit dem Toten zu befassen. Sie sind schließlich auf der Insel, um sich zu erholen und zu amüsieren. Sie gehören zu einer bestimmten Szene von Menschen, die sich jedes Jahr dort treffen, für den Rest des Jahres aber keinen Kontakt untereinander haben. Und jedes Jahr kommen sie wieder, voller Spannung: Wer ist diesmal dort, fehlt jemand (denn sie sind alle nicht mehr jung, und bei einigen ist abzusehen, dass sie weite Reisen nicht mehr lange bewältigen können), kommen vielleicht neue Bekanntschaften dazu? Denn trotz der langen kontaktlosen Zeiten sind sie füreinander wichtig, manchmal wichtiger als ihre Bekannten bei sich zu Hause, und es gibt Liebschaften, Racheaktionen, Intrigen. Wir erfahren auch viel über Mallorca selbst, und nicht nur über das malerische Städtchen Paguera. Das allerdings ändert sich in den Jahren, in denen das Buch spielt – den Jahren unmittelbar vor und nach Corona und damit mit einer gewaltigen Zäsur in der Mitte –; geliebte Lokale verschwinden, andere, viel weniger anziehende, werden eröffnet, aber die Atmosphäre bleibt (noch) erhalten, und sogar, wer nie dort war, wird am Ende verstanden haben, was die Anziehungskraft dieser Insel und einzelner ihrer Orte ausmacht. Wer dort war, wird sicher viel Bekanntes entdecken und kann in Erinnerungen schwelgen.
Die Geschichte ist wirklich spannend und trotz des ernsten Themas immer wieder sehr witzig.
Eris von Lethe:
Es gibt keinen Kaffee im Café del Boulevard
Tredition, 2025,
Hardcover, 516 Seiten,
ISBN 978-3384740694,
Kosten: € 20,--
Eine Empfehlung von Gabriele Haefs
Gabriele Haefs Studium studierte Volkskunde, Sprachwiss.
Drei Jahre Verlagslektorin, heute freiberuflich tätig als Übersetzerin und Autorin. Schwerpunkte/Interessen: skandinavische/keltische Literatur, Volkskunde, Märchen, Musik.
Foto: privat
Transparenzhinweis: Die Empfehlung erfolgt aus Eigeninteresse und nicht aus wirtschaftlichen Gründen.
