Jean Webster (1876–1916) starb mit knapp vierzig Jahren im Kindbett, viele literarische Pläne konnte sie nicht mehr ausführen. Ein Teil ihrer Romane ist heute vergessen, unsterblich aber scheint »Daddy Long Legs« zu sein.
Judy, eine siebzehn Jahre alte Waise, wird aus dem Waisenhaus geholt und aufs College geschickt. Ihr unbekannter Wohltäter verlangt als Gegenleistung pro Monat einen Brief über ihre Fortschritte. Judy aber hat keinen Menschen und schreibt alle paar Tage; lustige, originelle, manchmal traurige Briefe über das Leben an einem Frauencollege in den USA um 1900 (Webster selbst hatte das Elitecollege Vassar besucht). Sie macht sich Gedanken über den Unterricht, die Freundinnen, die Verehrer, grübelt über die gesellschaftlichen Unterschiede, seziert Rollenbilder und sympathisiert mit der Frauenbewegung. Dabei werden ihre Briefe nie dogmatisch, sie flicht ihre Beobachtungen ganz nebenbei ein, wenn sie sich zum Beispiel fragt, ob Frauen überhaupt Bürgerinnen sein können, wenn sie doch kein Stimmrecht haben und also nicht mitentscheiden dürfen. Ihr Buch ist auch in der neuen Übersetzung und mit neuem Titel ein absoluter Lesegenuss, eine wunderbare (Wieder-)Entdeckung.
Die neue Ausgabe wurde auch neu illustriert. Der Illustrator hält sich eng an das Vorbild der früheren, nur: Die von Jean Webster für ihr Buch damals selbst angefertigten Zeichnungen waren viel witziger und origineller. Das tut der Lesefreude aber keinen Abbruch.
Jean Webster, Lieber Daddy Long Legs
deutsch von Ingo Herzke, illustriert von Franz Renger
Königskinder Verlag, Hamburg, 2017
Gebunden, 254 Seiten
ISBN 978-3-551-56044-5, 18,99 Euro