Schatzkiste #11: Unsere Forderungen für eine nachhaltige Entwicklung der Buchbranche
Seit rund einem Jahr arbeiten wir gemeinsam zum Jahresthema „Unsere Branche neu denken: Nachhaltige Entwicklung braucht Feminismus“ und informieren darüber jeden Monat in unseren Schatzkisten Bisher haben wir in Schatzkiste #1 zunächst in das Jahresthema eingeführt und die 17 UN-Nachhaltigkeitszieleentlang der fünf Ps (People in Schatzkiste #2, Planet in #3, Prosperity in #4, Peace in #5, Partnership in #6) vorgestellt. Danach haben wir in #7 genauer die Gendergaps beleuchtet, in #8 über die 5 Rs nachhaltigen Konsums informiert: Refuse, Reduce, Reuse, Repurpose, Recycle, in #9 untersucht, für welche Nachhaltigkeitsziele die BücherFrauen stehen, und in #10 unter dem Stichwort Inner Development Goals die Kompetenzen dargestellt, die wir brauchen, um für Entwicklung und Veränderung offen zu sein.
Jetzt ist es Zeit, als Branche vom Suchen zum Planen und Handeln zu kommen.
Zur Orientierung hier ein Schatzkistenüberblick:
Was kann, soll, muss die Buch-/Verlagsbranche dazu beitragen?
Und was braucht es dafür vom Staat?
- Wir fordern: Die Buchbranche soll entschieden ins Handeln kommen
- Wir fordern: Die Buchbranche ist prädestiniert, Erzählungen zu entwickeln und zu verbreiten – das sollte sie nutzen!
- Wir fordern: Der Staat muss (Buch-)Kultur als Grundlage demokratischen Zusammenlebens (noch) stärker fördern
Sind diese Forderungen nicht auch im Leitfaden der IG Nachhaltigkeit des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels zu finden?
Was fordern wir konkret?
- Diskriminierende Strukturen abbauen
- Bessere, fairere Arbeitsbedingungen für Soloselbstständige schaffen
- Fair produzierte Klasse statt Masse
- Künstliche Intelligenz sparsam und reflektiert einsetzen
Verbündete gesucht – im Verein und außerhalb!
Ausblick
Anhang: Kritische Anmerkungen zum Branchenleitfaden Nachhaltigkeit für Verlage
Um vom Suchen zum Planen und Handeln zu kommen, fragen wir:
Was kann, soll, muss die Buch-/Verlagsbranche dazu beitragen? Und was braucht es dafür vom Staat?
Unsere Forderungen basieren auf der gemeinsamen Arbeit zum Jahresthema. Entwickelt und ausformuliert wurden sie dann von Meiken Endruweit, Alison Sauer und Kristina Poncin.
Wir verstehen unsere Forderungen als Entwicklungsrichtungen, die wir für die Buchbranche als nötig erachten und die sich zugleich auch an uns selbst als Aktive in der Buchbranche richten.
Welche Fragen und Ziele liegen den 17 UN-Nachhaltigkeitszielen der UN, den Sustainable Development Goals – SDGs, zugrunde?
Aus unserer Sicht sind es diese drei:
- Wie wollen wir leben, lernen und arbeiten?
Wir wollen persönliche Entfaltungsräume für alle Menschen erschaffen. - Wie wollen wir wirtschaften und konsumieren?
Wir wollen eine lebenswerte Erde erhalten. - Wie wollen wir zusammenleben?
Wir wollen eine lebenswerte Gesellschaft erschaffen.
Wir fordern: Die Buchbranche soll entschieden ins Handeln kommen
Das braucht es
- in den Prozessen,
- in den Inhalten und
- in der Kultur des Umgangs.
Wir fordern: Die Buchbranche ist prädestiniert, Erzählungen zu entwickeln und zu verbreiten – das sollte sie nutzen!
Mit Blick auf nachhaltige Entwicklung sind drei positive Erzählungen (Narrative) besonders wichtig:
Erzählen vom nachhaltigen Wandel: Wir wollen weg von nicht haltbaren Wachstumsparolen und Ausbeutung und hin zu nachhaltigen Lösungen, die sozial, ökonomisch und ökologisch ausgewogen sind, weil Ressourcen (menschlich, Rohstoffe, Energie) begrenzt sind.
Erzählen vom Einbeziehen aller beteiligten Gruppen in Wandlungsprozesse: Wir wollen weg von Entscheidungen durch privilegierte Entscheidungsträger und hin zur Berücksichtigung aller beteiligten Perspektiven, im Sinne der 3R (jede Gruppe braucht ihre Rechte, Repräsentanz und Ressourcen), weil dies zu passenderen, gerechteren Lösungen führt.
Erzählen von einer pluralistischen demokratischen Gesellschaft: Wir wollen weg vom Dialog als notwendigem Übel und hin zum Dialog als demokratischem Werkzeug, weil Dialog genau das ist, was Demokratie ausmacht und mit Leben füllt. Außerdem wollen wir weg vom Recht des Stärkeren und Lauteren hin zu echtem Dialog und fairen Aushandeln, weil nur so eine Gesellschaft als Gemeinschaft entsteht.
Wir fordern: Der Staat muss (Buch-)Kultur als Grundlage demokratischen Zusammenlebens (noch) stärker fördern
Wir wollen weg von der Marginalisierung der Buchbranche als „reiner Kunst“ und „Elfenbeinturm“ – diese Kritik richtet sich an die Gesellschaft allgemein, aber auch an die Branche selbst – und hin zum Status des Buches als lebensnotwendig für eine demokratische Gesellschaft und alle Menschen, weil Bücher informieren, inspirieren, mobilisieren und zur Diskussion einladen und weil Bücher das Vergangene sichtbar machen, zur Diskussion des Jetzt einladen und die Zukunft entwerfen.
Sind diese Forderungen nicht auch im Leitfaden der IG Nachhaltigkeit des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels zu finden?
Tatsächlich werden diese Forderungen teilweise auch von der Interessengruppe Nachhaltigkeit des Börsenvereins formuliert, insbesondere im 2023 veröffentlichten, sehr lesenswerten Branchenleitfaden Nachhaltigkeit für Verlage zum Deutschen Nachhaltigkeitskodex (DNK).
Der Branchenleitfaden unterstützt Verlage dabei, eine Nachhaltigkeitsstrategie und eine nachhaltige Unternehmensstrategie zu entwickeln. Besonders berücksichtigt werden daher solche Aspekte, zu denen eine Berichtspflicht bereits besteht oder absehbar ist. Dazu liefert er sehr interessante, umfassende, wichtige und hilfreiche Informationen, Tipps und Checklisten.
Allerdings fokussieren der Börsenverein wie auch der Branchenleitfaden stark auf die Nachhaltigkeitsdimensionen Ökonomie und Ökologie, weniger auf Soziales.
So bleiben soziale Aspekte schwammiger als ökonomische und ökologische. Das liegt auch daran, dass sich die Sozialtaxonomie zum Zeitpunkt der Leitfadenentwicklung noch in Entwicklung befand (DNK-Leitfaden, S. 30) und dass die Corporate Sustainability Due Diligence Directive (CS3D), die das Reporting zu nicht finanziellen Aspekten regelt, erst am 25. Juli 2024 in Kraft getreten ist. Hier gibt es also noch reichlich Bedarf zum Ausschärfen (siehe dazu die kritischen Anmerkungen zum Branchenleitfaden am Ende der Schatzkiste und auch den Artikel der Hans Böckler Stiftung), denn nachhaltige Entwicklung braucht die Balance zwischen allen drei Dimensionen.
Was fordern wir konkret?
Diese Konkretisierungen basieren auf Stichpunkten zu Maßnahmen, die Meiken Endruweit das ganze Jahr über auf dem Jahresthema-Miroboard gesammelt hat. Danke!
Das Grundgesetz sichert zu, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind und dass niemand wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden darf. Auch darf niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Genaueres regelt u. a. das Allgemeine Gleichstellungsgesetz (AGG).
Doch zeigen die beharrlich bestehenden Gendergaps, das Inklusions-Factsheet (Stand: September 2023) und der Lagebericht „Diskriminierung in Deutschland“ (Stand: September 2024): Da ist noch viel Luft nach oben und Deutschland bleibt hinter europäischen Standards zurück.
Wir brauchen diese Rechte nicht nur, sondern sie müssen auch konsequent umgesetzt werden! Das verlangt eine entsprechende Repräsentanz aller Gruppen (Sichtbarkeit, Konsultation, Entscheidungsbefugnisse) und entsprechende Ressourcen (Zeit, Geld, Personal).
Was bedeutet das konkret für die Buchbranche?
Vieles ist denkbar, vieles wäre sinnvoll, vieles wäre – Entschiedenheit und nötiges Prioritätensetzen vorausgesetzt – auch machbar.
Wir beschränken uns auf einige Beispiele:
Diskriminierende Strukturen abbauen
Das lässt sich an vielen Stellen machen:
- in der Besetzung von Gremien, Führungspositionen etc.
- bei der Verleihung von Preisen und Fördergeldern
- in Presse und Medien bei Rezensionen, Einladung zu Gesprächen, Porträts etc.
Wir fordern dafür
- mehr als eine Frau auf die Shortlist für Einstellungen/Beförderungen
- kompetenzbasiertes Recruiting durch Beurteilung von anonymisierten Arbeitsproben
- strukturierte Interviews bei Rekrutierungs- und Beförderungsentscheidungen
- Angabe von Gehaltsbändern bei Stellenausschreibungen
- transparente Kriterien bei Gehaltsentscheidungen
- transparente Kriterien im Beförderungsprozess
- Einstellung von Diversity-Manager:innen
- Kulturwandel: Jobsharing bzw. geteilte Führung als Regelfall etablieren (Vereinbarkeit mit Care-Arbeit, Normalisierung nicht dauerhafter Erreichbarkeit)
- Kulturwandel kontra „greedy Work“
- regelmäßige Neuauflagen der Studie #FRAUENZÄHLEN
- analoge branchenspezifische Studien zu Diversität und Inklusion
Bessere, fairere Arbeitsbedingungen für Soloselbstständige schaffen
Soloselbstständige wie Autor:innen, Übersetzer:innen, Lektor:innen, Korrektor:innen, Illustrator:innen, Grafiker:innen, Hersteller:innen, Literaturagent:innen sind das Rückgrat der Verlagsbranche. Trotzdem können viele von ihnen kaum existenzsichernde Einkommen und Renten erwirtschaften. Die generellen Gendergaps und damit verbundene Armutsrisiken treffen sie noch stärker, denn sie tragen nicht nur ihre eigenen unternehmerischen Risiken, sondern auch die der Branche mit. Sie bieten maximale Flexibilität bei minimaler Sicherheit, denn sie müssen oft trotz Verschiebungen gute Qualität liefern und Deadlines halten. Zudem sind sie die Ersten, deren Honorar bei Engpässen gekürzt oder deren Arbeit gestrichen wird.
Wir fordern daher
- fiktive Mindestgehälter bzw. reale Mindesthonorare (nicht Einheitshonorare) auch für Soloselbstständige in der Buch- und Kulturbranche
- bezahlte Elternzeiten auch für Soloselbstständige in der Buch- und Kulturbranche
- Steuerausnahmen für Soloselbstständige in der Buch- und Kulturbranche
- einer Interessenvertretung für Soloselbstständige in der Buch- und Kulturbranche, für urheberrechtliche Fragen ebenso wie für die oben genannten finanziellen Belange
- gezielte Förderung von Autorinnen und weiblichen Kulturschaffenden
- gezielte Förderung von Büchern und Kulturprojekten von Frauen
Wer soll das bezahlen? Verlage, aber auch der Staat.
Fair produzierte Klasse statt Masse
Laut Spartenbericht Literatur und Presse 2022 ist bei insgesamt rückläufigen Novitätenzahlen die Nutzung digitaler Formate in den letzten Jahren deutlich angestiegen. Auch die Umsätze der Buchbranche sind gestiegen (z. B. von 2020 auf 2021 um 3,5 %). Hartnäckig halten sich proprietäre Formate, sodass Verlage jeden Titel für diverse Formate wie EPUB, MOBI, PDF oder AZW aufbereiten müssen.
Crossmediale Angebote von Inhalten erzeugen Zusatzaufwände, denen keine entsprechenden zusätzlichen Märkte entgegenstehen. Kompensiert wird das unter anderem durch niedrigere Autor:innenhonorare für digitale Formate. Dabei reduzieren steigende Digitalabsätze die Printabsätze und damit verbundene Honorare effektiv. Kompensiert wird dies aber auch über sehr knappe Honorarsätze für Dienstleistungen, die mit den nötigen Adaptionen und Konvertierungen zu tun haben.
Digitale Produktkränze erfordern zudem entsprechende zusätzliche Speicherkapazitäten und die dafür nötigen Ressourcen (Personal, Materialien, Energie), nicht selten mit negativen sozialen Folgen.
Wir fordern, kritisch zu hinterfragen, ob bzw. wie weit diese Zusatzaufwände unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten zu rechtfertigen sind:
- Welches digitale Format hat sich am besten bewährt?
- Sind alle möglichen Formate wirklich nötig? Wenn ja, wofür genau?
- Können und wollen wir sie uns – alle Faktoren berücksichtigt – weiterhin leisten?
- Wie können wir von proprietären Formaten zu einem Standardformat gelangen?
Künstliche Intelligenz sparsam und reflektiert einsetzen
Künstliche Intelligenz (KI) lässt sich in vielen Bereichen der Buchproduktion einsetzen: Texte verfassen, übersetzen, zusammenfassen, korrigieren …
Doch werden beim Training von KI nicht nur urheberrechtliche Fragen umschifft und verletzt (siehe dazu die Stellungnahme des Deutschen Kulturrats und die Studie „Urheberrecht & Training generativer KI – technologische und rechtliche Grundlagen“) und Menschen unter unwürdigen Bedingungen ausgebeutet (siehe z. B. Artikel bei Heise-News und Tagesschau-Beitrag), sondern der Einsatz von KI ist sehr energie- und ressourcenintensiv. Zudem reproduziert generative KI rassistische und sexistische Strukturen (siehe z. B.UNESCO, hateaid und Politikum-Beitrag).
Das sind nur einige Punkte, die unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten kritisch zu bewerten sind.
Wir fordern, über die Vorgaben des EU Artifical Intelligence Acts hinaus die Stellungnahme des Deutschen Ethikrats „Mensch und Maschine – Herausforderungen durch Künstliche Intelligenz“ (Stand: 20.03.2023) ernst zu nehmen und sie in Strategie-, Planungs- und Entscheidungsprozessen konsequent zu berücksichtigen.
Die Stellungnahme formuliert zehn Querschnittsthemen, die sich zur Reflexion anbieten und für die auch Empfehlungen formuliert werden:
- Erweiterung und Verminderung von Handlungsmöglichkeiten
- Wissenserzeugung durch KI und Umgang mit KI-gestützten Voraussagen
- Gefährdung des Individuums durch statistische Stratifizierung
- Auswirkungen von KI auf menschliche Kompetenzen und Fertigkeiten
- Schutz von Privatsphäre und Autonomie versus Gefahren durch Überwachung und Chilling-Effekte
- Datensouveränität und gemeinwohlorientierte Datennutzung
- Kritische Infrastrukturen, Abhängigkeit und Resilienz
- Pfadabhängigkeiten, Zweitverwertung und Missbrauchsgefahren
- Bias und Diskriminierung
- Transparenz und Nachvollziehbarkeit – Kontrolle und Verantwortung
Verbündete gesucht – im Verein und außerhalb!
Du bist in einer Position mit Entscheidungsbefugnis oder strebst eine solche an?
Du hast ein Gespür für Ungerechtigkeit?
Diskriminierungsfreiheit ist für dich keine leere Worthülse, sondern ein ehrliches Ziel?
Dann bist du bei uns richtig: Wir suchen Verbündete, die uns bei dem Ziel unterstützen, Gleichstellung, Diversität und Inklusion in der Buchbranche voranzubringen.
Ausblick
Die nächste und letzte Schatzkiste dreht sich um unser Jahresthema-Fazit: Was haben wir bewegt? – falls ihr hierzu Anstöße, Ideen oder Buchvorschläge habt, die ihr mit uns teilen möchtet, meldet euch, kommt zum nächsten Treffen am 25. November oder schreibt uns direkt an.
Diese Schatzkiste wurde von Kristina geschrieben.
Nochmals herzlichen Dank:
- besonders an Meiken, die das Thema das ganze Jahr über kontinuierlich im Verein vorangebracht und auf dem Jahresthema-Miroboard dokumentiert hat,
- an Meiken und Alison für das Formulieren der Forderungen,
- an Meiken für das Sammeln von Stichpunkten zu konkreten Maßnahmen,
- an Alison, Meiken, Mischa und Mona für kritisches Gegenlesen und kluge Fragen!
Zum Team gehören außerdem Jara Fischer, Hanna Schmandin, Sandra van Lente und Stefanie Weiß.
Nachhaltigkeit ist unsere Zukunft!
Anhang: Kritische Anmerkungen zum Branchenleitfaden Nachhaltigkeit für Verlage
Hier folgt eine Sammlung von kritischen Anmerkungen, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt.
- Immer wieder wird Nachhaltigkeit auf Ökologisches reduziert, dabei vor allem auf das Reduzieren von CO2-Emissionen und Wasserverbrauch und die Beschaffung der für die Buchproduktion zentralen Rohstoffe Holz und Mineralöl (z. B. S. 11), obwohl darauf hingewiesen wird, dass das zu kurz greift (S. 17). Die für digitale Produktion und Produkte nötigen Ressourcen werden hier nicht erwähnt.
- Stellenweise erscheint Diversität wie ein Mittel zum Zweck: „Es ist mittlerweile durch Studien belegt, dass homogene Teams deutlich häufiger dazu neigen, die immer gleichen Fehler zu wiederholen. Im Umkehrschluss bedeutet also ein Mehr an Diversität auch ein Mehr an wirtschaftlichem Erfolg.“ (S. 17; ganz abgesehen davon, dass dieser Umkehrschluss nicht zulässig ist)
- „Nachhaltigkeit muss immer ganzheitlich und systemisch gedacht und entlang der gesamten Wertschöpfungskette betrachtet, umgesetzt und gesteuert werden. Sie muss die Interessen und Bedürfnisse sämtlicher Stakeholder berücksichtigen und über die Grenzen der Organisation hinausblicken.“ (S. 23) Das stimmt. Es wird auch die 360°-Perspektive auf Nachhaltigkeit gefordert (S. 20). Trotzdem kommen manche Perspektiven gar nicht vor. Es ist z. B. nicht erkennbar, dass/wie auch die Soloselbstständigen einbezogen werden, die essenzielle Arbeit erledigen und den Laden (also die Buchbranche) mit „am Laufen“ halten. Es scheint, als ob sie hier als eher unwesentlich eingestuft werden, vermutlich weil sie keine Stimme haben und nur als Einzelperson auftreten, vermeintlich auswechselbar und unsichtbar sind.
- Die Partizipation im Zuge der Strategieentwicklung lässt Zulieferant:innen (wie Soloselbstständige als Contentgeber:innen und -bearbeiter:innen) außer Acht (S. 21).
- Der Einstieg in die Berichterstattung(spflicht) (S. 48 f.) könnte visionärer ausfallen als nur ausgerichtet auf gesetzes- und richtlinienkonformes Verhalten.
- Die mit der Berichtspflicht verbundenen Datenerhebungen bieten eine Chance zur Schließung von Gendergaps. Diese Chance sollte genutzt werden, doch das wird nicht genauer spezifiziert.
- Die Tiefe der Wertschöpfungskette wird bisher überwiegend ökologisch und ökonomisch reflektiert, nicht sozial. „Treten Sie mit Ihren Lieferant:innen und Dienstleister:innen in den Dialog und überlegen Sie gemeinsam, wie deren Produkte noch nachhaltiger gestaltet werden können.“ (S. 76) Wir würden uns wünschen, dass die „nachhaltige Gestaltung“ expliziter soziale Nachhaltigkeit berücksichtigte: wie deren Arbeitsbedingungen aussehen, ob sie fair bezahlt werden, versichert sind usw.
- Ausgelagerte Tätigkeiten in den Bereichen Inhaltsaufbereitung, Datenaufbereitung, Vermarktung und Vertrieb, die auch im Verlag stattfinden können, werden nicht berücksichtigt (S. 76), tauchen auch in der Stakeholderübersicht nicht auf (S. 93).
- So bleibt auch offen, welche Standards für eingekaufte Leistungen von Soloselbstständigen gelten (S. 114).
- Beim Kriterium der Qualifizierung werden Diversität und Diskriminierung zwar als Leistungsindikatoren erwähnt, aber nicht genauer als Berichtsaspekte gewürdigt (S. 121 f.).
- Die Ausführungen zur Nachhaltigkeitskommunikation beschränken sich auf ökologische Nachhaltigkeit (S. 140 und S. 144 bei den Kernforderungen). Das greift zu kurz.
- Sehr fragwürdig erscheint, wenn mit Blick auf „verantwortungsvolle Lieferketten“ angemerkt wird: „Es sollte klar sein, was mit ‚verantwortungsvoll‘ gemeint ist und welche (wenn nicht alle) Teile der Lieferkette darunterfallen.“ (S. 142)
- Soloselbstständige Autor:innen, Lektor:innen, Übersetzer:innen, Hersteller:innen etc. werden mit Blick auf die Lieferkette überhaupt nicht erwähnt (S. 142, S. 150).
- Die Übersicht branchenspezifischer Faktoren geht für den Bereich der Redaktion und des Lektorats nur auf Content ein, der „die nachhaltige Entwicklung unserer Gesellschaft und Lebensweise unterstützen“ soll (S. 146), nicht auf die Entwicklung dieses Contents (auch S. 150 f.).
- Beim Innovationsmanagement wird der Einbezug der Kund:innen und Partner:innen (Wer ist damit gemeint?) empfohlen, nicht aber ausdrücklich der Einbezug von Autor:innen, Lektor:innen, Übersetzer:innen, Hersteller:innen etc.
Die offenen Punkte im Fazit zum Thema „Nachhaltigkeit im Verlag: Was hat das mit IT zu tun?“ sind zutreffend und wichtig, aber noch viel zu knapp (S. 172 f.).